In Liebe
Marie-Luise

Ich habe oft über mein bisheriges Leben gedacht, ich könnte darüber einen richtigen Groschenroman mit Herz-Schmerz und glücklichem Ende schreiben. Nie hätte ich es für möglich gehalten, dass alles einen so schmerzvollen Riss bekommen würde...
Mein Mann war meine erste große Liebe, doch leider gab es in unserer Jugend kein Happyend für uns. Damals trennten sich unsere Wege wieder. Ich lernte einen anderen Mann kennen, den Vater meiner zwei großen Kinder. Pierre wurde 1978 geboren und 1983 meine Tochter Nadja. Wir hätten glücklich sein können, doch die Gefühle gingen verloren und unsere Ehe wurde geschieden.
Ich wollte dann neu beginnen, wechselte Wohn- und Arbeitsort und zog zurück in mein Elternhaus. Hier richtete ich mich mit meinen Kindern ein. Die Kinder waren mein Lebensinhalt, ich wollte versuchen, ihnen das Scheitern meiner Ehe und den damit verbundenen Verlust des Vaters, der nach Berlin zog und auch wieder heiratete, möglichst wenig spürbar werden zu lassen.
Durch Zufall traf ich dann meine große Jugendliebe Hans-Joachim wieder. Wir verstanden uns auf Anhieb, als wäre dazwischen nichts geschehen. Er hatte nie geheiratet und auch noch keine Kinder. Für ihn war meine Vergangenheit genauso wenig ein Problem, wie das Annehmen meiner beiden Kinder. Unsere Liebe war stark genug und auch für die Kinder war er schnell der Vater, es war eben wie im Groschenroman. Als dann 1991 noch unsere gemeinsame Tochter Marie-Luise geboren wurde, war unser Glück komplett. Schon Marie-Luises Geburt war wie ein wunderbares Geschenk für uns, denn eigentlich sollte es nach Aussage meines Frauenarztes kaum noch möglich sein, ein Kind zu bekommen. Doch dann war sie da und unser aller Sonnenschein, so ruhig, ausgeglichen, strahlend, sie hatte ja auch immer jemanden um sich, der sie verwöhnte. All unsere Liebe, die sie bekam, gab sie durch ihre einmalige Art doppelt zurück.
Als sie ihren zweiten Geburtstag im Krankenhaus feiern musste, sie hatte einen Blinddarmdurchbruch erlitten, war es für uns wie ein Wunder, dass wir sie behalten durften. Sie wurde innerhalb eines halben Jahres 3 mal operiert, wir mussten sehr um sie bangen und auch die Jahre danach hatten wir immer Sorge um sie, denn mit dem Essen hatte sie so ihre Probleme - sie war eben unsere "Schlanke". Aber trotz allem war sie sehr zäh und ausdauernd, bei Wanderungen oder Fahrradtouren lies sie sich nie klein kriegen. Durch ihre großen Geschwister angespornt und von ihnen angeleitet, lernte sie schon frühzeitig Rad fahren, auf Innlinern stehen, Schlittschuh fahren. Dreirad, Roller, Skateboard, Ski - alles kein Problem. Wie stolz wir auf sie waren, wenn sie beim Crosslauf vorneweg lief.
Aber genauso stolz war sie auf ihre großen Geschwister... Ich vergesse nie ihren Blick, als sie einmal von ihrem großen Bruder abgeholt wurde und die anderen Kinder voller Staunen zu ihrem auch körperlich wirklich großen Bruder aufsehen mussten. Auch die Augenblicke mit ihrer großen Schwester, in denen sie ihre eigenen Heimlichkeiten austauschten, von denen ich nichts wissen durfte. Wir malten uns schon die Zukunft aus, erster Freund, erster Kuss, ...
Marie-Luise war ein ganz "pflegeleichtes" Kind, das schnell Kontakt mit anderen Kindern fand, auch mit Erwachsenen gut zurecht kam und dadurch auch von so vielen geliebt und geschätzt wurde. Der Dorfplatz vor unserem Haus war oft ein Spielmittelpunkt der Kinder. Aber auch allein wurde es Marie nie langweilig, wie oft beobachtete ich sie in solchen Momenten aus dem Fenster, wie sie im Hof mit sich selbst spielte und erzählte. Wie groß ihre Phantasie doch war.
In der Schule musste sich Marie manchmal sehr anstrengen, sie hatte am Anfang einfach keine Lust. Vielleicht fehlte ihr auch nur der Zeitabschnitt zum Spielen, den sie durch ihre Krankheit mit zwei Jahren nicht so hatte wie andere Kinder. Aber trotzdem ging sie gern in die Schule und das war wichtig. Schnell fügte sie sich dann in die neue Klasse im Gymnasium ein, obwohl sie einen schweren Start hatte, da ich ja durch meine Krankheit einige Zeit nicht zu Hause war und sie große Angst um mich hatte. Ganz wichtig war in dieser Zeit ihre neue Klassenlehrerin Frau Weber - für mich ist sie es heute noch.
Ein ganz besonderes Verhältnis hatte Marie-Luise zu Tieren. So liebte sie alles, was man in der Natur entdecken konnte, Würmer, Schnecken, Schmetterlinge - sie sammelte z.B. tote Schmetterlinge und bewunderte sie mit all ihren Farben. Zum Geburtstag wünschte sie sich einen Wellensittich und sogar ihren Papa, der kein großer Katzenfreund ist, konnte sie davon überzeugen, ihre Katze zu bekommen. Und wie sie sich darauf freute, dass ihre Lucie Junge bekommen sollte. Ihre größte Sorge war, dass Lucie "entbindet", während sie nicht da war. Leider konnte sie die Katzenkinder nicht mehr kennen lernen, sie kamen erst eine Woche nach ihrer Beerdigung zur Welt. Da Marie sich so darauf gefreut hatte, haben wir eine der kleinen Katzen behalten.
Schon immer zog es unsere Kleine auf den Rücken von Tieren, sei es auf Spielfiguren oder auf einen Esel, ein Kamel oder - ihre große Liebe - die Pferde. Wahrscheinlich hat sie diese Liebe von ihren Großvätern, die beide mit Pferden aufwuchsen - für mich waren Pferde immer etwas zu groß... Marie-Luise konnte nicht verstehen, dass wir kein Pferd für sie besorgten. Aber nachdem wir es schon mit einem kleineren Pferd versucht hatten und merkten, dass wir keine guten Pferdehalter wären, haben wir gedacht, alles richtig zu machen: Marie-Luise sollte unter erfahrenen Händen reiten lernen und Reitstunden nehmen. Hält ihre Pferdeliebe an, könne sie sich später, wenn sie selbst ein Pferd versorgen kann, auch ein eigenes auf unserem Grundstück halten. Für sie war deshalb auch schon klar, dass sie sich einmal die Scheune zur Wohnung umbauen würde. Aus dem Schuppen im Garten würde dann der Pferdestall. Und später kämen ihre Schwester Nadja und ihre Cousine Tina mit ihren Familien zu ihr auf den Reiterhof und machen dort Ferien. Welch herrliche Zukunft...
So war zu ihrem 11. Geburtstag auch der größte Wunsch, Reiterferien auf dem Kollerhof zu machen. Selbst zu Weihnachten wollte sie nichts anderes haben, damit es ja mit dem Kollerhof klappt. Ihr ganzes Geld sparte sie für Reitstunden. Natürlich wollten wir ihr diesen Herzenswunsch erfüllen.
Nachdem ich nach überstandener Operation eines Hirntumors und anschließender ReHa-Kur auch körperlich wieder dazu in der Lage war, sollte es in der Woche nach Ostern 2002 endlich losgehen. Wir erlebten dort viele glückliche Stunden, für Marie war es so wie sie es sich vorgestellt hatte. Den ganzen Tag war sie mit Pferden zusammen - füttern, putzen, Ponys ausführen, Reitstunden. Sie fand sofort Kontakt zu anderen Mädchen - damit hatte sie ja nie Probleme, egal ob jung oder alt. Wir als ihre Eltern waren froh und stolz unsere Tochter so glücklich zu erleben. Nun dachten wir, nach all den überstandenen Sorgen der letzten Zeit, würde es endlich aufwärts gehen.
Doch dann kam diese Reitstunde, in der wir als stolze Eltern auf der Tribüne sitzend mit ansehen mussten, wie unsere Tochter aus für uns unerklärlichen Gründen - das Pferd hat nicht gescheut, alle Sicherheitsbestimmungen in der Reithalle waren in Ordnung - vom Pferde fiel. Sie stand erst wieder auf, lief einige Schritte und sackte in den Armen ihrer Reitlehrerin zusammen. Es war so schrecklich sie zu sehen und nichts für sie tun zu können, sie hatte sich bei dem Fall vom Pferd eine so schwere Verletzung zugezogen, dass sie wenige Augenblicke später in unseren Armen starb. Sie hatte nach ihrem Sturz keine Chance mehr gehabt. Hilfe war sofort da, sie wurde wiederbelebt über eine Stunde lang, doch ohne Erfolg. Leider können auch mit den heutigen, modernen Mitteln der Medizin noch nicht alle Verletzungen geheilt werden und dann ist plötzlich alles so endgültig. Immer wieder sehe ich diese Augenblicke vor mir und kann bis heute die ganze Tragweite nicht erfassen, und verstehen werde ich es wohl niemals. Ein kleiner Augenblick, eine einzige Bewegung und die ganze Welt ist auf den Kopf gestellt...

Wir versuchen nun schon fast 11 Monate gegen diese Leere anzukämpfen, die unsere Marie in unserem Leben hinterlies. Es fällt schwer das Leben ohne unseren Sonnenschein, doch in all unserer Liebe für sie, lebt sie in uns an einem geborgenen Platz ganz tief in unseren Herzen weiter. Sie fehlt so unsagbar sehr und wir können den Weg vor unseren Füßen nicht sehen. Ich denke, nur durch die tiefe Liebe zu ihr können wir überhaupt weiter existieren.

Folgende Zeilen drücken unseren Zustand treffend aus:

Du warst es wert so sehr geliebt zu werden und Du bist es wert, dass so viel Traurigkeit geblieben ist an deiner Stelle...

So vieles wollten wir noch gemeinsam tun und nun können wir es nur für Dich durch unsere Hände ,unsere Augen ,unsere Herzen tun. Auch aus diesem Grund musste ich diese, Deine Homepage erstellen. Auch aus diesem Grund haben wir in den vergangenen Monaten weiter unseren Boden ausgebaut, auf dem Du ein neues Zimmer haben solltest. Du hattest Dich schon riesig darauf gefreut - wolltest ja nun schon langsam erwachsen werden...
Wir haben Dich innig geliebt und auch Dein Tod wird diese Liebe nicht besiegen, Du lebst in uns und durch uns weiter und gibst uns die Kraft dazu!

Danke dafür, dass wir 11 wunderschöne gemeinsame Jahre und einen Monat haben durften!

Deine Mama (Mum wie Du gesagt hast), dein Papa, dein großer Bruder Pierre und deine Schwester Nadja