So oft schon hatte sie von ihm geträumt,
von ihrem blauen Luftballon. Größer war er
und schöner als alle Luftballons, die sie auf Jahrmärkten
oder in Geschäften gesehen hatte.
Es war ihr Geheimnis, und sie träumte von ihm,
nicht nur im Schlaf, auch oft am Tage, wenn sie Zeit
hatte. Und sie hatte ziemlich viel Zeit, denn sie war
klein, zart und nicht sehr kräftig. Sie konnte
nicht so viel toben und spielen wie die anderen Kinder.
Sie wurde immer schnell müde, oblgleich sie so
gern mitspielen wollte, und sie war auch oft krank.
Dann las sie viel, malte, erfand Kreuzworträtsel
und löste sie. Am schönsten war es aber, wenn
sie die Augen schloß und ihren blauen Ballon herbeiwünschte.
Sie hatte ihn nie gemalt und niemanden von ihm erzählt,
aber wenn sie die Augen zumachte und ihn herbeiwünschte,
kam er angeflogen, ganz sacht. Sie ergriff die kleine,
weiße Schnur, und schon schwebte sie mit ihm davon,
leicht und frei wie eine kleine blaue Wolke.
Manchmal konnte sie zu ihrem Luftballon sagen:"Komm
bring´ mich zu den Bergen, wo die weißen
und blauen Blumen blühen, wo es keine Disteln oder
Brennesseln gibt und keine Wespen, die stechen",
und dann trug er sie dorthin. Sie band ihn an einem
Baum fest und sagte: "Warte hier auf mich",
und dann lief sie durch den Teppich aus Blumen und weichem
Gras und warf sich der Länge nach in das Blütenmeer.
Se ließ sich von der Sonne wärmen und vom
Wind streicheln, und dann konnte sie auch die Sprache
der der Tiere verstehen. Manchmal kam ein kleiner Vogel
auf ihre Hand geflogen und erzählte ihr, wie er
sein Nest gebaut hatte, und wie mühsam es war,
immer wieder Futter für die Vogelkinder heranzuschleppen.
Dann half sie ihm Samenkörner zu suchen. Er zeigte
ihr sein Nest, und die Vogelkinder hatten gar keine
Angst, sondern pickten ihr die Körnchen aus der
Hand.
Auch mit dem Eichhörnchen konnte sie sprechen
und bat sie doch nicht mehr die Eier aus den Vogelnestern
zu stehlen. Die Eichhörnchen aber guckten sie traurig
an und fragten: "Wie sollen wir dann unsere Jungen
ernähren, wenn wir das nicht mehr dürfen?"
Da versprch sie ihnen das nächste Mal Nüsse
mitzubringen und Sonnenblumenkerne und ein bißchen
altes Brot. Dann band sie schnell ihren Luftballon los
und schwebte, leicht und schwerelos, über Berge
und Täler, Wiesen und Bäche und hatte noch
den Blumenduft in der Nase, wenn sie sich wieder in
ihrem Bett fand.
Manchmal hatte sie auch gar keine Wünsche. Sie
sagte dann einfach: "Ach, flieg wohin du willst!"
Dann flog er mit ihr ans Meer, und die tausend kleinen
Wellen murmelten: "Sieh uns an, wir haben schöne
weiße Kronen auf, und wir sind immer neu, in jedem
Augenblick. Wir tanzen und fließen und wandeln
uns und sind immer in Bewegung. Wir spielen mit den
Fischen und den Pflanzen, mit den Muscheln und dem Mondlicht.
Manchmal, in ganz besonderen Nächten, leuchten
wir und feiern unser großes Fest. Meeresleuchten
nennen es die Menschen, und sie sind sehr glücklich,
wenn sie es sehen dürfen. Wünsche dir nur
immer, das dein Luftballon dich zu uns trägt, wenn
wir unser Lichtfest feiern!" "O, seid ihr
schön! Manchmal möchte ich auch eine kleine
Welle sein! Aber nun lebt Wohl, auf bald", rief
sie dann und schwebte nach Haus, ganz froh und glücklich.
Die Menschen wunderten sich oft, das sie so ein strahlendes
Gesicht und so leuchtende Augen hatte, obgleich sie
doch so oft krank und müde war, aber sie erzählte
ihnen nicht von ihrem Geheimnis, von dem schönen,
blauen Luftballon und den herrlichen Traumreisen, die
sie mit ihm machen durfte. Sie hatte das Gefühl,
daß sie ihn verlieren könnte, wenn sie auch
nur einem Menschen davon erzählte ....
Eines Tages war Jahrmarkt in der kleinen Stadt, und
sie ging auch dorthin. Schon von weitem sah sie die
vielen kleinen, bunten Buden und die großen und
kleinen Karussells. Sie roch den Duft von Schmalzgebackenem
und von Bratwürstchen und war fast betäubt
von der lauten Musik und den vielen Menschen. Ein wenig
fürchtete sie sich vor dem Gedränge und wollte
schon wieder unkehren. Aber sie ging doch weiter, und
da sah sie ihn, ihren blauen Luftballon. Dort hinten,
nahe bei dem Kettenkarussel mit den vielen kleinen Schaukeln,
sah sie einen großen Busch bunter Luftballons
leuchten und mitten unter ihnen, nein, über ihnen,
den großen blauen Luftballon, den Luftballon aus
ihren Träumen.
Ihr Luftballon! Sie mußte ihn haben, ehe ein
anderer iihn kaufte! Fort war die Angst vor dem Gedränge;
flink wie ein Eichhörnchen huschte sie durch die
Menge, und schon stand sie, ganz außer Atem, vor
dem alten Mann, der den Busch mit den vielen Luftballons
zum Verkauf anbot. "Ich... den blauen... es ist
meiner", brachte sie heraus, noch ganz atemlos.
"ja, es ist deiner", sagte der alte Mann freundlich,
"ich habe ihn für dich aufgehoben. Viele wollten
ihn schon kaufen, aber er ist unverkäuflich, denn
er gehört dir!"
"Hebst du ihn noch einen Augenblick für mich
auf?" fragte sie, "ich möchte zu gern
einmal mit dem Karussell hier fahren, nur einmal!"
"Ja, geh nur, ich halte ihn für dich, bis
du soweit bist", nickte der alte Mann. Und schon
saß sie in einer der kleinen Schaukeln. Das Karussell
begann sich zu drehen, erst langsam, dann immer schneller.
"Herrlich, ich fliege", dachte sie, das ist
fast so schön wie mit meinem Luftballon, aber nur
fast ...´, und da sah sie ihn, er flog direkt
auf sie zu. Hatte der Mann ihn losgelassen? Er konnte
doch nicht wegfliegen ohne sie! Wie ein Blitz sausten
die Gedanken ihr durch den Kopf, und da streckte sie
beide Hände aus, ergriff die vertraute Schnur,
und schon schwebte sie über dem Karussell, über
dem Jahrmarkt und dem gazen bunten Gewimmel, selig und
ganz erleichtert, das sie ihn erreicht hatte.
"Wolltest du etwa ohne mich fliegen", fragte
sie ihn, "jetzt, wo ich dich endlich in Wahrheit
gefunden habe und nicht nur immer im Traum?" "Aber
nein", antwortete er, und sie wunderte sich nicht,
daß er sprechen konnte. "Ich bin gekommen,
um dich abzuholen und dir noch viel, viel Schöneres
zu zeigen als bisher in deinen Träumen!" "Noch
Schöneres, das gibt´s doch gar nicht!"
rief sie und schaute nach unten auf den Jahrmarkt.
Aber was war da geschehen? Alle Karussells standen
still, die Musik spielte nicht mehr, die Menschen standen
wie erstarrt und sahen auf eine kleine Gestalt, die
in ihrer Mitte am Boden lag und sich nicht mehr bewegte.
"Die sieht ja aus wie ich", sagte das Mädchen
verwundert, " sie hat ja mein Kleid an, aber wie
ist das möglich? Ich bin doch hier!" "Ja,
du bist wirklich hier", antwortete die ruhige Stimme
aus dem blauen Luftballon, "und was da unten liegt,
ist das, was auch immer nachts auf deinem Bett lag,
wenn ich dich zu unseren Traumreisen abholte. Es ist
nur eine Hülle, die du für das Leben da unten
brauchtest. Aber jetzt brauchst du sie nicht mehr, denn
du mußt nicht mehr dorthin zurückkehren,
wo du so oft krank und müde warst". "muß
ich nicht?" fragte sie erstaunt, "o, herrlich,
mein Körper fühlte sich oft so schwer an,
wenn ich nach unseren Reisen wieder in meinem Bett aufwachte.
Aber ...", sie zögerte ein bißchen,
"wenn ich nun gar nicht mehr zurückkomme,
sehe ich ja meine Eltern, und meine Geschwister und
all meine Freunde nicht mehr wieder. Das ist schwer,
und sie werden auch sehr traurig sein. Sieh mal, sie
weinen ... Können wir ihnen nicht schnell sagen,
daß ich hier bin, ganz munter und gesund, und
daß es so herrlich ist, mit dir zu fliegen?"
Sie winkte und rief, aber die Menschen sahen und hörten
sie nicht. "Sie können dich jetzt nicht sehen",
sagte die ruhige Stimme, "und sie sind sehr erschrocken
und sehr traurig, weil sie nicht wissen und nicht glauben,
was du und ich sehen und erleben. In Wahrheit aber hat
jeder von ihnen einen blauen Luftballon, der sie in
ihre Träume fortträgt und ihnen alles zeigt,
was sie sehen möchten, genau so, wie ich es mit
dir getan habe. Aber die meisten Menschen schlafen so
fest, und wenn sie aufwachen, drehen sie sich sofort
in ihrem Bett um, öffnen die Augen und denken an
das, was sie am Tage tun wollen. Dann sind ihre Luftballons
fort und mit ihnen die Träume und alles, was sie
in der Nacht erlebt haben. So glauben sie nur an das,
was sie sehen und hören, fühlen und schmecken
können, wenn sie wach sind. Aber du mußt
nicht traurig darüber sein, denn die Menschen,
die dich ganz lieb haben, die darfst du von nun an in
der Nacht besuchen und ihnen von dem schönen Land
erzählen, zu dem wir jetzt gehören. Wenn sie
dann aufwachen, werden sie sich an ihre Träume
erinnern, und dann werden sie nicht mehr ganz so traurig
darüber sein, daß sie dich am Tage nicht
mehr sehen und haben können. So kannst du ihnen
dabei helfen, daß sie nicht mehr traurig sind
und auch - ganz allmählich - jede Nacht ein bißchen
mehr - ihren eigenen blauen Luftballon zu finden. Wenn
sie ihn schließlich gefunden haben, dann bekommen
sie auch so leuchtende Augen und ein so strahlendes
Gesicht wie du, über die sie sich immer gewundert
haben. - Es ist sehr gut, daß du ihnen früher
nichts von mir erzählt hast, denn sie hätten
dich nicht verstanden. Jetzt aber, wo du von ihnen fortgegangen
bist, erscheint ihnen ihr Tagesleben nicht mehr ganz
so wichtig. Sie beginnen zu erkennen, daß es noch
eine andere Welt gibt, was sage ich, viele andere Welten,
die viel, viel schöner sind als alles was Menschen
in ihrer Welt sehen und erleben."
"Ja, wenn das so ist", sagte das Mädchen,
"komme ich gern mit dir und bin auch nicht mehr
traurig. Dann bringe mich nur schnell zu dem Land, von
dem du gesprochen hast, damit ich ihnen bald alles in
ihren Träumen zeigen und erzählen kann. Ich
mag es gar nicht, daß sie traurig sind, während
ich mich doch so leicht und frei und glücklich
fühle!"
Sanft trug der blaue Luftballon sie in das helle Land.
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