Abschied von unserem Mariechen

... von einem Augenblick zum anderen ist die Welt für uns stehen geblieben, nichts ist mehr so wie es war.
... das Leben um uns herum geht weiter, aber wir müssen es erst lernen dieses Leben ohne unsere Marie-Luise anzunehmen und zu gehen
... wir stehen am Rand, abseits und es geschieht etwas mit uns, aber wir sind nicht die Akteure
... wir erahnen langsam, was das Wort fassungslos bedeutet, es ist nicht zu erfassen oder gar zu begreifen

5. April 2002

...Ein Arzt im Krankenhaus sagt uns das, was wir schon wissen, aber nicht verstehen: "Wir mussten aufhören mit den Wiederbelebungsversuchen, die Verbindung zum Gehirn ist unterbrochen" Die Obduktion brachte dann das Ergebnis: Gehirnstammstrangabriss...
...Wir dürfen zu Dir... Du schläfst doch nur... Dein Hals ist noch so warm... aber von irgendwoher kommt die Kälte... das bist nicht mehr Du... Du hast Deinen kleinen geliebten Körper verlassen... wir waren doch gerade eben noch so glücklich...
...Alles was jetzt kommt geschieht nur noch, ein ganzer Teil von mir ist mit Dir gegangen... Krankenhausseelsorger... Polizei... Kriminalpolizist... Befragung... Antworten... Heimfahrt auf der Autobahn... zu Hause - die Starre löst sich endlich in dem Satz: Sie schläft doch nur... Tränen...
...Alles was man jetzt tun muss, ist nicht normal: es ist nicht normal, die Beerdigung für sein Kind organisieren zu müssen... Dein Papa muss an so vieles denken... das Leben ist nicht fair...
...Ich möchte eine schöne Beerdigung für Dich mit Musik, Du hast so gerne gesungen, aber man traut es sich nicht zu, zu singen... Pierre und Nadja stellen für Dich eine Kassette zusammen mit Deinen Lieblingsliedern und mit Liedern Deines Chores vom Gymnasium... Ich würde gerne eine tolle Rede für Dich halten, damit alle wissen, was Du für uns warst - unser Sonnenschein - aber dazu habe ich nicht die Kraft...
Wir suchen einen Sarg für Dich aus und bestellen Sonnenblumen für Dich, damit etwas Sonne mit in die Erde kommt, auch ein schönes Blumengesteck mit Deinem Barbie-Spielzeugpferd soll mit zu Dir in das Grab... Wir suchen nach Gedichten, die unseren Schmerz ausdrücken... viele kommen zu uns, alle sind fassungslos, wollen helfen...

12. April

Mein Mariechen,
eine Woche nach dem Unfall ist Deine Beerdigung. Wir - Papa, Pierre, Conny, Nadja, Stefan und ich gehen als erstes zu Dir in die Leichenhalle. Wir haben Dir Deine Glitzerjeans anziehen lassen und Deine Jeansjacke, auch Deinen silbernen Hüftgürtel - unsere kleine Große!
Du liegst in einem Bett aus Sonnenblumen und schläfst - um Dich ein Meer aus Blumen und Tränen... Du bist so kalt mein kleiner Engel und kalt ist es in mir bis heute...
Wir begreifen nichts, schon gar nicht, das wir uns von Dir, Deinem Körper, verabschieden sollen...
Dann kommen auch noch Oma und Opa, Oma Marianne, Karola, Tina, Tante Marianne und Tante Karin aus Coburg... sie legen Dir Dein Geburtstagsgeschenk - eine Kette und ein Armband mit in den Sarg...
Nadja hat extra für Dich eine Kette mit Anhänger ausgesucht und mit Deinem und ihrem Bild dazu versehen, sie legt Dir noch das orange Herzkissen mit hinein, welches Dir so gefallen hat...
Ich weiß nicht mehr wie die weitere Zeit vergangen ist... alle kommen zu uns nach Hause, alle Deine Tanten, Onkels, Cousinen und Cousins, Ulrike, Enrico, Nicole, Babsy , Hei, Ute, Mike... wir müssen los... ein langer trauriger Zug... dabei warst Du immer so stolz auf unsere ganze große Familie und unsere Familienfeiern... alle sind da... für Dich...
An der Trauerhalle warten schon viele Deiner alten und neuen Klassenkameraden, Deine Frau Weber, meine Arbeitskollegen - Deine ehemaligen Lehrer, viele, viele, die Dich kannten und liebten... ich konnte sie nicht sehen, ich funktionierte nur... Wir saßen in der Halle und hörten Deine Musik... die Bläser spielten, sie sollten für Dich spielen: Stern über Bethlehem zeig uns den Weg,... Du weißt ja wir haben es oft gesungen, zumindest den Anfang und wenn es im Sommer war... aber ich konnte es nicht hören, ich funktionierte nur...
Wir laufen hinter Dir her zum Friedhof, wir vier... wir stehen am Grab, so viele sind da um sich zu verabschieden... wir schauen auf Deinen Sarg in der Erde, wir fallen auf die Knie und würden am liebsten zu Dir hinunter... aber wir funktionierten nur...
Dann gehen alle in die Kirche, Deine Freunde zünden für Dich Kerzen an, es wird hell in der Kirche, die Kinder haben für Dich gezeichnet und gebastelt, so vieles liegt in der Kirche ausgebreitet... wie würdest du Dich freuen.
Samuel hält eine schöne Predigt, auch Marianne spricht extra für Dich, ich kann nicht viel hören und denken, ich funktioniere nur...
Ellen hat so viel Kraft, sie spielt extra für Dich und ganz allein auf ihrer Flöte, ich bin froh, dass Du so eine Freundin hast...
Hände... Worte... Blicke... wir funktionieren, aber wir verstehen nichts... Auch die Leute vom Kollerhof sind gekommen, auch Natascha... Hinterher gehen wir in den Bürgertreff und sitzen und trinken Kaffee, dabei immer der Gedanke an die glücklichen Feiern in diesem Raum... warum?
Dein Grab ist fertig, es ist ein Blumenmeer, so wie Du immer die Blumen geliebt hast, viele haben Dir noch etwas Persönliches geschenkt oder gemalt oder geschrieben... Du hättest Dich so gefreut über die vielen Leute, über die vielen Blumen, aber Du wärst wahnsinnig traurig gewesen über die vielen Tränen und den Schmerz, denn Du konntest nie jemanden traurig oder weinen sehen...

Es folgen Wochen der Starre und der Kälte...nichts ist mehr wie es war!


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